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Noch mehr Überlegungen, Schreiben von Martin Mair an die KoordinatorInnen

Martin Mair am So., 14.08.2011 - 22:34

14.8.2011

Betreff: Noch mehr Überlegungen

Liebe Leute, ein wenig wundert es mich schon, dass Karins Überlegungen bislang auf keine Reaktion stoßen.

Ich kann mich leider nur vollinhaltlich anschließen: Ich finde es grundsätzlich inakzeptabel wie nun die „Koordinatorengruppe“ genau das wiederholt was wir ansonsten kritisieren: Dass über unsere Köpfe Politik gemacht wird. Nun spielen „wir“ über die Köpfe der Anderen hinweg ein wenig Regierung und es fällt „uns“ gar nicht mehr auf, dass die Basis nun gar nichts mehr von „uns“ erfährt. Das ist ganz wie in der „normalen“ Demokratur bei uns: Die Macht geht vom Volke aus und kehrt nie wieder zurück, einmal gewählt und die Funktionäre werken vor sich hin ...

Im Arbeitseifer möge man nicht vergessen, was der Begriff „Koordinator“ bedeutet. Das was zu koordinieren ist, das gilt es ja erst einmal zu zusammenzusetzen. Die InteressentInnen gehören gesammelt und über die weiteren Schritte informiert. Vor allem gehört Ausschau nach neuen MitkämpferInnen gehalten. Dass eine konstituierende Versammlung erst nächstes Jahr statt finden soll, nur weil die Armutskonferenz keine Kohle rausrücken will, das kann es doch nicht sein! Wollen wir wirklich in der Zwischenzeit über die anderen hinwegregieren?

Namensdiskussion und Leitbild einfach im internen Kreis zu machen ohne die anderen zu fragen, finde ich schon schräg. Der Sinn der Plattform ist ja, dass wir alle GEMEINSAM neue Wege suchen, den von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen eine Stimme, oder besser noch ein Stimmgewitter zu geben. Wieso wird auf das Wissen und die Kreativität der anderen verzichtet? Für mich ist Hauptaufgabe der KoordinatorInnen die Kommunikation in Gang zu setzen und organisatorische Unterstützung bei der Bildung einer demokratischen Struktur, bei der ALLE mitmachen können, zu geben.

Befremdlich fand ich, als vom Mindestsicherungsbeirat die Rede war und wir als Beiwagerl der Armutskonferenz gerade einen Sitz bekommen sollen, schon eine der frisch gebackenen Armutsfunktionäre die Funktion für sich reklamierte. Ohne, dass diskutiert wird, was dort erreicht werden kann und ob es nicht besser wäre, eigene Sitze zu fordern, damit wir auch offiziell, auch am Protokoll bzw. in der funktionalen Zusammensetzung des Beirats!, sichtbar werden. Im Sinne der in Österreichischen Sozialpartnerschaft üblichen Paritäten sollten Betroffenenorganisationen doch die Hälfte (Gebende vs. Empfangende) oder zumindest ein Drittel (Gesetzgebung – Durchführung – Betroffene) der Sitze bekommen. Oder wenigstens eine pro Bundesland, wo doch keine einheitliche Umsetzung da ist. Auch sollte dieses Gremium so wie der ORF Publikumsbeirat öffentlich tagen und zumindest einmal im Jahr eine Studie in Auftrag geben können.

Wie wird die INFORMATION in BEIDE Richtungen weiter gegeben? Wie können die anderen an diesem politischen Forum Teil haben? Wie können möglichst viele Informationen gewonnen werden, die auch anderen nutzen können? Wie können wir dieses Gremium nutzen, um wenigstens ein bisserl Öffentlichkeit für unsere hoffentlich gemeinsamen Anliegen zu schaffen? Wie können wir verhindern, dass wir uns durch ein paar Krümel der Scheinteilhabe ruhig stellen lassen? Die Verhältnisse sind ja sehr ungleich: Die jetzt drinnen sitzen haben das ganze Jahren ihre Apparate hinter sich, wir wursteln uns von Tag zu Tag durch ...

Die Vergabe des „Tickets“ nach Krakau an Wodt ohne die anderen auch nur zu informieren ist für mich der erste Sündenfall. Ich habe zu Michi Schüttkes Intervention die Position bezogen, dass das Koordinationsteam noch nicht konstituiert ist und daher nichts tun kann (und soll).

Ich bin schon gespannt, wie wir es auf die Reihe kriegen, dass unser Entsandter nicht nur im eigenen Namen hinfliegt sondern auch für alle anderen. Denn ich würde ihm schon gerne den von den AKTIVEN ARBEITSLOSEN ausgearbeiteten Menschenrechtsbericht zum Verteilen an die hohen Herren Politiker mitgeben. Für mich ist es jedenfalls selbstverständlich derartige Initiativen anderer so weit wie möglich zu unterstützen und deren Papiere zu verteilen.

Davon haben die Armen aber nichts, wenn ein paar Armutsfunktionäre die paar Funktiönchens unter sich ausmauscheln und für sich ein paar Krümel symbolischen Kapitals an Land ziehen. Als Einzelpersonen werde sie in den Gremien vermutlich sowieso nicht ernst genommen.

Sinn der Plattform sollte ein anderer sein: Die politische Selbstorganisierung der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen zu fördern und so aus einzelnen, kaum wahrnehmbaren Stimmen einen wohl aufeinander abgestimmten und unüberhörbaren Chor zu bilden. Unsere Aufgabe ist daher mehr die Bildung des gemischten Kollektivs zu unterstützen und es nach Möglichkeit zu erweitern auf dass daraus eine POLITISCH WIRKSAME BEWEGUNG wird. Auch wenn wir alle bereits existierenden Gruppen zusammen bringen, sind wir noch zu wenige und zu schwach um wirklich in Österreich etwas bewegen zu können!

Inakzeptabel finde ich, dass die bisher von uns entsandten VertreterInnen sich nicht um den Informationsfluss gekümmert haben und so agiert haben, als würden sie nur sich bzw. deren Vereine vertreten. Demokratisch ist das nicht wirklich, was da bislang ablief und bringt als ganze Szene auch nicht weiter.

Befremdlich finde ich, dass Susanne mich als dem „Aktionismus“ zugehörig abgetan hat. Abgesehen davon, dass mein Aktionismus und der von Karin durchaus hohe Qualität hat und auch etwas erreichen kann, sei auf die auf unserer Homepage einsehbaren Dokumente wie Gesetzesstellungnahmen, Menschrechtsbericht an die UNO, Presseaussendungen usw. verwiesen. Nur mit lieb und nett sein, werden wir auch nichts erreichen. Dass mit gut durchdachtem und durchaus provokanten aber gewaltlosen Aktionismus etwas erreicht werden kann, hat die „Orange Alternative“ in Polen mehr als deutlich vorgeführt!

Wissenschaftlich gesehen ist es durchaus interessant die Abgehobenheit der ArmutsfunktionärInnen bzw. deren entfremdetes Bewusstsein zu untersuchen. Vor allem der „Unterdrücker im Unterdrückten“, der schon von Paulo Freire beschrieben wurde, ist einer Untersuchung wert. Es zeigt sich immer wieder, wie wenig demokratische Kultur wir in Österreich haben und wie sehr die paternalistischen Verhältnisse bis ins letzte Winkerl hinein wirken.

Sozusagen als Pflichtlektüre möchte ich daher allen „Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten“ ans Herz legen. Gibt es auch online als Google-Book:
http://books.google.com/books?id=7m-MSAZqvT0C

Weiters gibt es von Paulo Freire „Unterdrückung und Befreiung“ online zu lesen: http://books.google.com/books?id=2zeqLw45CmoC

Weil durch angepasstes Verhalten in den bestehenden Strukturen nichts zu erreichen ist (unsereins kriegt ja nicht einmal einen Posten) sei noch ein Standardwerk empfohlen:

Frances Fox Piven und Richard A. Cloward: Aufstand der Armen
http://www.who-owns-the-world.org/wp-content/uploads/2010/01/Piven-Cloward_Aufstand_der_Armen.pdf

Ich hoffe so einen Anstoß zum einer tiefer gehenden Politisierung zu geben. Der Begriff Politik kommt nämlich von der griechischen Polis wo im Öffentlichen Raum jeder Bürger die Gelegenheit hatte, seine Anliegen einzubringen und mit den anderen demokratisch auszuhandeln (siehe Hannah Ahrendt „Vita Activa“).

In Anbetracht der kaum noch zu übersehenden gesellschaftlichen Widersprüche, dem wachsen der Kluft zwischen Arm und Reich, Mächtig und Ohnmächtig, der Errichtung des neoliberalen Armenregimes mit dem Arbeitszwangregime (Workfare) durch die schrittweisen aber zusammenhängenden Verschlechterungen der vergangenen Jahre (AlVG-Novelle 2007, Mindestsicherung, Verschärfung Invaliditätspension und viele andere „Kleinigkeiten“) brennt eigentlich schon der Hut und es wäre höchst an der Zeit, uns endlich gemeinsam gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlage zu wehren und das nicht mehr schweigend hinzunehmen!

Liebe Grüsse

Martin

Wie die neueren Entwicklungen der Geschichte (Griechenland, Spanien, arabische Länder, Horn von Afrika, ... usw.) zeigen, befinden wir uns in einer doch eher bewegten wenn nicht dramatischen Phase der Geschichte, wo trotz steigendem Reichtums immer mehr Menschen mit ziemlich brutaler Gewalt an den Rand gedrängt werden. Bei uns passiert das noch in vielen kleinen Schritten, die oft hinter verschlossenen Türen und von der sogenannten Öffentlichkeit unbemerkt gemacht werden oder wo die langfristigen Zusammenhänge einfach nicht mehr gesehen werden. Wer denkt jetzt noch an die erste große Welle des Sozialabbaus in den 80er Jahren?

Ich denke, da kommt einiges auf uns zu. Daher wünsche ich mir, dass die Plattform deutlich politischer und kampeswilliger wird. Denn wer nicht kämpft, der hat schon verloren!

Ich wünsche mir auch, dass Ihr es Euch überlegt und auch ehrlich dazu steht, ob Ihr es nun wirklich ernst meint mit der Plattform oder nicht. Ich habe auch so genug zu tun....

Das ist wie beim Frosch im Wasserglas: Wird es nur langsam in kleinen Schritten erwärmt, merkt er gar nicht, dass er gekocht wird.

In diesem Sinne frei nach Ingeborg Bachmann: Denken ist zumutbar.

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