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Skandalurteil: VwGH gibt der Bürokratie die Lizenz zum Verhungern lassen kranker Menschen

Soumis par Aktive Arbeits… le mer, 13.04.2016 - 12:17

VwGH rechtfertigt mit sehr einseitiger Begründung Totalsperre bei der Mindestsicherung und missachtet systematisch Menschenrechte

(Wien, Graz 13.4.2016) Der für die Mindestsicherung zuständige Senat 10 hat in einer vorige Woche veröffentlichten, an Klassenjustiz erinnernden Entscheidung das Menschenrecht auf Soziale Sicherheit bzw. das Menschenrecht auf Existenz mit einem Federstrich hinweggefegt und der österreichischen Bürokratie eine brandgefährliche Waffe in die Hand gegeben: Bloß weil in den Erläuterungen des Sozialministeriums zur Artikel 15a Vereinbarung über die Mindestsicherung steht, dass diese „eben kein bedingungsloses Grundeinkommen darstellt“, soll es laut Verwaltungsgerichtshof möglich sein, ohne jede weitere Skrupel den gesamte Beitrag zur Deckung der Lebenskosten zu streichen und Menschen mitten im reichen Österreich der Gefahr des Verhungerns auszusetzen.

Österreichs Behörden und Richter wüten schlimmer als bei Hartz IV!

Der österreichische Verwaltungsgerichtshof agiert dabei wesentlich kaltblütiger als Hartz IV Deutschland: Es verschwendet nicht einen Satz damit, dass es so etwas wie Menschenrechte gibt und dass die Behörden – so wie in Deutschland auch – verpflichtet wären, wenigstens mit Sachleistungen das Überleben der auf die „letzte Existenzsicherung“ angewiesenen Menschen zu sichern. Laut dem auch auf Armen- und Arbeitslosenrecht spezialisierten Rechtsanwalt Herbert Pochieser ist der Senat 10 schon öfter durch schikanöse Rechtsprechung gegen SozialhilfebezieherInnen aufgefallen1 und ist daher als Wiederholungstäter zu bezeichnen.

Im konkreten Fall geht es um einen offensichtlich vom Schicksal gebeutelten Obdachlosen, der anfangs brav alles mitgemacht hat, auch ein umfangreiches „ärztliches, psychologisches und sozialarbeiterisches Clearing“ bei dem eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit festgestellt wurde. Im Rahmen eines „Hilfeplans“ hat dann die Behörde dem offenbar vielfach angeschlagenen Hilfesuchenden ein ziemlich umfangreiches, tief in das Privatleben eingreifendes Programm vorgeschrieben, das diesem wohl einfach zu viel auf einmal war:

  • „Inanspruchnahme einer regelmäßigen neuro-psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung

  • Erlernen von Stressbewältigungsstrategien ambulante Alkoholfachberatung

  • Betreuung im Rahmen eines bestimmt genannten Arbeitsintegrationsversuchs

  • Beratung betreffend Wohnversorgung durch eine bestimmt genannte soziale Einrichtung

  • Kontrolle beim Augenfacharzt

  • ambulante physikalische Therapien.“

Dass in Österreich die Europäische Menschenrechtskonvention, welche die persönliche Sphäre und körperliche Integrität und somit vor Zwangsbehandlungen schützen soll, im Verfassungsrang steht und eben nicht durch ein einfaches Landesgesetz ausgehebelt werden kann, scheint die Höchstrichter nicht im geringsten zu kümmern, wenn es darum geht, Übergriffe der Behörden zu rechtfertigen.

Der Bürgermeister der Stadt Salzburg – wo Vizebürgermeisterin Anja Hagenauer von der SPÖ für das Sozialressort zuständig ist – sprach als zuständige Behörde eine Kürzung des Lebensunterhaltes um 99% aus und gestand dem gesundheitlich eingeschränkten Obdachlosen 6,10 Euro zum Überleben zu. Dass das Landesverwaltungsgericht diese extreme Kürzung auf „nur noch“ 87,5% reduzierte und dem Obdachlosen 76,31 Euro im Monat als ausreichend zum Überleben bemessen hatte, weil das der Mindestsicherungssatz für Menschen in Pflegeheimen ist, war den Schreibtischtätern immer noch zu viel. Dem Land Salzburg – wo Heinrich Schellhorn von den Grünen Soziallandesrat ist – war diese Milde des Landesverwaltungsgerichts zu viel des Guten und forderte in einem „ordentlichen Rekurs“ die volle Härte des Gesetzes ein.

Hokuspokusrechtsprechung zaubert Rechtsstaat weg

Die Verwaltungsrichter greifen ungeniert in die juristische Zaubertrickkiste und leiten aus der Behauptung, dass im Landesgesetz keine Beschränkung der Bezugskürzungen vorgesehen sei, ab, dass nach Belieben alles an Existenzsicherung weggenommen werden kann. Sie nehmen sich darüber hinaus das Recht, gleich in der Sache selbst zu entscheiden und ohne jede weitere Begründung einfach die von der Landesverwaltung geforderte Kürzung um 99% auszusprechen, ohne der Frage nachzugehen, ob verfassungswidrige Zwangsbehandlung einfach so vorgeschrieben werden dürfen, ob die von der Behörde vorgeschriebenen Zwangsmaßnahmen überhaupt zumutbar oder zweckmäßig waren und ob der Betroffene aufgrund seines offenbar gesundheitlich angeschlagenen Zustands überhaupt in der Lage war, seine Interessen gegenüber der allmächtigen Behörde zu wahren und einzufordern.

Besonders frech ist die Uminterpretation des Salzburger Mindestsicherungsgesetzes: Obwohl klar im selbst von den Richtern zitierten Paragraf 1 das Primat der Hilfe festgeschrieben ist: „Ziel dieses Gesetzes ist die Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausschließung von Menschen, die dazu der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen, unter Förderung einer dauerhaften (Wieder-)Eingliederung dieser Personen in das Erwerbsleben.“

Im geradezu „Orwellschen Sinne“ wird die „Förderung“ zur totalitären Forderung, der sich die Menschen bedingungslos zu unterwerfen haben.

Bedenklich ist auch, dass die Verwaltungsrichter dem Landesgesetzgeber offenbar nicht zugestehen, für die Betroffenen günstigere Gesetze zu erlassen, weil die Erläuterungen der Rahmenregelung, die explizit nur Mindeststandards im Sinne der Betroffenen fest schreibt, genommen werden, um auf dem Gerichtsweg Verschlechterungen von oben herab durchzusetzen!

Ein faires Verfahren dürfte nicht statt gefunden haben. Es findet sich kein Hinweis im Urteil dafür, dass der Verwaltungsgerichtshof dem Betroffenen eine Möglichkeit zur Stellungnahme zur Revision der Landesregierung hatte, geschweige denn, dass er eine anwaltliche Vertretung im Zuge einer Verfahrenshilfe bekommen hat oder, dass eine mündliche Verhandlung stattgefunden hätte. Die hohen Richter suchen vielmehr alles was den Beschwerdeführer belastet, und machen diesen sprachlich de facto zum Angeklagten, der „nur ansatzweise bereit sei … Vorgaben zu erfüllen“ und behandeln diesen dann wie ein rechtloses Objekt, dem die Höchstrichter nicht einmal die „Deckung der absolut notwendigen menschlichen Grundbedürfnisse“ gönnen.

So nebenbei outen sich die wie Scharfrichter Agierenden als funktionale Analphabeten, weil sie keinerlei Verständnis vom bedingungslosen Grundeinkommen zeigen, weder politisch noch vom Worte her: Dieses wird nämlich im Gegensatz zur Mindestsicherung jedermensch ohne Antrag bedingungslos zusätzlich zum Einkommen gezahlt und muss auch Existenz sichernd sein, weshalb 76,31 Euro im Monat an nachweislich einkommenslose Menschen auf Antrag und Prüfverfahren hin gewährtes Geld, das an zahlreiche weitere Bedingungen geknüpft ist, noch lange kein bedingungsloses Grundeinkommen ist!

 

Neue Verwaltungsgerichtsbarkeit wird zum tödlichen Boomerang für Hilfe Suchende

So wird die neue Verwaltungsgerichtsbarkeit offenbar zum Boomerang für die Rechtsunterworfenen: Die Erstbehörde braucht nur die neue Möglichkeit eines Rekurses zu nutzen, um gegen ihr nicht genehme Entscheide der Landesverwaltungsgerichte vorzugehen, ohne dass die Hilfe Suchenden sich dagegen wehren können, wenn sie sich keinen Anwalt leisten können.

Die beharrliche Kritik der UNO vorgetragene Kritik, dass die österreichische Justiz die Menschenrechte nicht in den Gerichtsurteilen anwende und dass Menschenrechte in der Ausbildung von Richtern keine Rollen spielen2, scheint den auf Kosten des Volkes gut bezahlten Stand der Höchstrichter nach wie vor nicht zu interessieren. Und das obwohl die von Österreich ratifizierten Menschenrechte als Bundesgesetz beschlossen und veröffentlicht wurden und die Europäische Union sogar eine Grundrechtecharta eingeführt hat.

Damit bestätigt der Verwaltungsgerichtshof die gut zehn Jahre alte Conclusio des Staatsrechtlers Universitätsprofessor Ewald Wiederin über die Durchsetzbarkeit sozialer Menschenrechte in Österreich: „Österreich zählt in der Tat zu den letzten Staa­ten der Erde, die ihre Bürger und Einwohner ohne Verfassungsbruch verhun­gern lassen können.“3

Politiker und Richter sind für die massive Gewalt im Staat verantwortlich!

Dass der politisch für dieses Existenzvernichtungsprogramm und andere massive Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Ex-Sozialminister Rudolf Hundstorfer von der ehemaligen ArbeiterInnenpartei nun nach dem „höchsten Amt“ in der Republik Österreich greift, zeigt nur allzu deutlich den moralischen Verfall in diesem Staat auf. Nicht nur Flüchtlinge werden entrechtet, sondern auch die eigenen StaatsbürgerInnen, wenn diese von der allmächtigen Wirtschaft nicht mehr benötigt werden.

Dass Präsident und Vizepräsident des Verwaltungsgerichts von der Regierung, also von den herrschenden Parteien, bestellt werden und diese bei der Auswahl neuer Richter ein kräftiges Wörtchen mitzureden haben und viele Richter parteipolitisch verortet werden können, rundet das Sittenbild der Zwetschkenrepublik Österreich weiter ab. Die vom Verwaltungsgericht auf der eigenen Homepage beschworene „unabhängige Rechtsprechung“ ist also ein Märchen. Gute Frage, wie diese Höchstrichter die Verantwortung dafür übernehmen und den von ihnen mitzuverantwortenden Schaden wieder gut machen wollen, wenn die Behörden – so wie seit Jahren in Großbritannien – nun Menschen durch Bezugskürzungen und -einstellungen in den Tod treiben, sei es weil sie hilflos verhungern oder aus Verzweiflung Selbstmord begehen.

Aktive Arbeitslose Österreich fordern:

  • Soziale Menschenrechte endlich in den Verfassungsrang sowie Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt, der Individualbeschwerden bei der UNO ermöglicht.

  • Ersatzlose Streichung des schikanösen Sanktionenregims bei um über 200 Euro unter der Armutsgrenze liegenden Mindestsicherung! Insbesondere solange Wirtschaft und Politik das Menschenrecht auf frei gewählte Arbeit aufgrund der von ihnen zu verantwortenden weiter steigenden Massenarbeitslosigkeit missachten!

  • Rasche Nachschulung der Höchstrichter und Verwaltungsrichter in Sachen Menschenrechte und rechtsstaatlicher Grundsätze.

  • Disziplinarmaßnahmen für Richter, die das grundlegende Menschenrecht auf Existenzsicherung zerstören!

Hinweise:

Auf unsere Anfrage an den Soziallandesrat Heinrich Schellhorn von der Grünen Alternative mit Bitte um Stellungnahme zum schikanösen Rekurs des Landes Salzburg ist bei uns leider noch keine Antwort eingelangt.

1 Mit dem Gesetz gegen die Menschenwürde? Senat 10 des VwGH kürzt Mindestsicherung bei Lebensgemeinschaft, auch wenn der Lebensgefährte nichts beitragen kann
http://www.aktive-arbeitslose.at/news/herbert_pochieser_mit_recht_gegen_armut/mit_gesetz_gegen_menschenwuerde_senat_10_des_vwgh_kuerzt_mindestsicherung_bei_lebensgemeinschaft_auch_wenn_der_partner_nichts_verdient.html

2 Siehe auch: Soziale Menschenrechte: UNO kritisiert AMS-Sanktionen, niedrige Mindestsicherung und fehlende Mitbestimmung der Betroffenen http://www.aktive-arbeitslose.at/news/20131209_uno-kritisiert_oesterreich_wegen_verletzung_sozialer_menschenrechte_ams-bezugssperren_mindestsicherung.html

3 Ewald Wiederin: Umverteilung und Existenzsicherung durch Sozialversiche­rungsrecht, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher/Ulrich Runggladier (Hrsg.): Wirtschaftssteuerung durch Sozialversicherung, 2005

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