Sorry, you need to enable JavaScript to visit this website.

Hinweis zu E-Mail-Anfrage: Aus technischen Gründen und aus Gründen des Datenschutzes und der Netzpolitik bitte Google und gmx meiden! Weitere Infos

Reform der Arbeitslosenversicherung: Existenzgefährdung durch Bezugssperren abschaffen!

Submitted by Aktive Arbeits… on Tue, 09.11.2021 - 22:09

Antrag 07

an die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien
zur Tagung der Vollversammlung am 11.11.2021
der Wahlwerbenden Gruppe

FAIR UND TRANSPARENT

zum Thema

Reform der Arbeitslosenversicherung:
Existenzgefährdung durch Bezugssperren abschaffen!

Arbeitslose Personen sind beim AMS schon seit Jahren einer steigenden Zahl verhängter Bezugssperren ausgesetzt:

Hatte das AMS im Jahr 2000 noch rund 56.000 Bezugssperren, so waren es 2019 rund 146.000, also fast das Dreifache. Auch die Sperrhäufigkeit stieg: von rund 250 auf rund 400 Sperren je 1000 Arbeit Suchender (inkl. Kursen).

Selbst im Krisenjahr 2020 wurden, hat das AMS trotz rund 3monatiger Aussetzung von Sanktionen und kaum vorhandener Arbeitsstellen, immer noch 93.000 Bezugssperren verhängt. Dies entspricht trotz Rekordarbeitslosigkeit nur einer Halbierung der Sperrquote, während in Deutschland Bezugskürzungen auf ein Fünftel zurück gingen!

Hinzu kommt, dass die Einstellung des Arbeitslosengeldes nur in Form einer schriftlichen Mitteilung, ohne vorherige Kontaktaufnahme erfolgt. Dies passiert augenscheinlich oft nur aufgrund von Indizien, Verdachtsmomenten oder Informationen Dritter und ohne Einholung einer Stellungnahme der Betroffenen. Damit ein Bescheid ausgestellt - und damit ein behördliches Ermittlungsverfahren zur Feststellung der tatsächlichen Umstände eingeleitet wird -, muss dieser von den betroffenen Personen aktiv eingefordert werden. Der Betroffene muss für seine Existenzsicherung also de facto seine Unschuld beweisen!

Der UNO-Ausschuss für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte kritisierte in den abschließenden Empfehlungen der 4. Staatenprüfung Österreichs die überbordenden Sanktionen beim AMS und forderte die Regierung auf, sicher zu stellen, dass das Menschenrecht auf Existenz sichernde und frei gewählte Arbeit dadurch nicht verletzt werde.

Im Herbst 2019 erkannten sowohl das Deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG,Urteil 1 BvL 7/16) und der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urteil C‑233/18), dass Sanktionen unter das Existenzminimum mit der Menschenwürde (Artikel 1 Europäische Grundrechtecharta) unvereinbar und daher grundrechtswidrig sind, weil unter allen Umständen ein menschenwürdiges Auskommen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen und der körperlichen und psychischen Gesundheit, vorrangig sind. Das BVerfG stellte fehlende wissenschaftliche Evidenz für eine positive Wirkung von Sanktionen auf die Vermittlung von Arbeit Suchenden fest, kritisierte die „abschreckende Wirkung“ von Sanktionen, die fehlenden Differenzierung nach Schwere des Vergehens sowie, dass Sanktionen schon vor Abschluss eines fairen Verfahrens verhängt werden. Alles Punkte, die auch auf AMS-Sanktionen in Österreich zutreffen!

Durch das neue Sozialhilferahmengesetz wurde die Möglichkeit abgeschafft, die massive Existenzbedrohung durch AMS-Sanktionen wenigstens teilweise abzufedern. Der Staat ist von den Gesetzen her nicht einmal verpflichtet, das Überleben von Menschen durch Sachleistungen zu gewährleisten!

Sanktionen, vor allem in Form von Einstellung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung als „Erziehungsmaßnahmen“ sind in mehrfacher Hinsicht nach den Grundwerten der Demokratie, Menschenrechte und dem Zweck einer Sozialversicherung fragwürdig und daher abzulehnen:

  • Es wird der ursprüngliche Sinn der Arbeitslosenversicherung verkehrt: Statt mit richtiger, individueller Unterstützung eine qualifizierte Arbeit suchen zu können, werden Menschen genötigt, den nächsten Job, egal ob zu ihnen passend oder nicht, ob Arbeitsbedingungen und Mindeststandards eingehalten werden oder nicht, anzunehmen.
    Dabei würden naturgemäß bessere Ergebnisse zu erzielen sein, wenn jemand eine Arbeit finden kann, mit er/sie zufrieden ist und sich identifizieren kann.

  • Laut Verwaltungsgerichtshof kann jedes Verhalten, das bei einem Unternehmen bereits die theoretische Chance verringert, beschäftigt zu werden, eine Bezugssperre rechtfertigen! Damit werden Arbeit Suchende de facto schutzlos einer möglichen Willkür der UnternehmerInnen ausgeliefert.
    Es sollte jedoch bereits von Seiten der Arbeitsmarktpolitik und somit auch des AMS versucht werden, möglichst ein Gleichgewicht und eine gleiche Richtung zwischen den Interessen der UnternehmerInnen und der (künftigen) ArbeitnehmerInnen zu erreichen.

  • Vor allem Langzeit-Erwerbsarbeit-Suchende werden oft einem kontraproduktiven Dauerstress ausgesetzt, der sich oftmals auf die Gesundheit schlagen kann, wodurch sich Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut erst recht verfestigen.
    Dabei wollen die allermeisten Menschen arbeiten und sind sehr unglücklich über ihre Lage, wenn sie keine passende Erwerbsarbeit finden. Denn Erwerbsarbeit erfüllt nicht nur die Funktion des Geldverdienens, sondern wesentliche latente Funktionen wie Alltagsstrukturierung und Gebraucht-Werden, ein erweitertes soziales Umfeld und Zugehörigkeitsgefühl sowie freudvolle Aktivierung des Körpers und Stärkung eigener Fähigkeiten und Erfahrungen, vergleiche Paper 27 der Oberösterreichischen Gesundheitskasse 2009. Sie würden vielmehr Fingerspitzengefühl und persönliche Unterstützung benötigen, um wieder Selbstvertrauen zu fassen. Psychische Stabilität und Vertrauen in sich selbst sind wesentliche Stützen, auf die sich ein neues Arbeitsverhältnis aufbauen kann.

  • Ein Vorgehen auf Basis von Sanktionen erschüttert die Vertrauensbasis in die Arbeitslosenversicherung und das Arbeitsklima beim AMS.
    Dabei ist allgemein bekannt, dass Angst und Wut – die Sanktionen stets nach sich ziehen – Menschen eher lähmen, während eine ernsthafte und gute Anleitung zum Erkennen und Nutzen eigener Fähigkeiten und Aufbau von Vertrauen wesentliche Elemente sind, um Menschen voranzubringen und sich auch für andere einzusetzen.

  • Die MitarbeiterInnen des AMS werden auf diese Art gezwungen, Sanktionen mit teils massiven Konsequenzen gegen ihre Mitmenschen und „KundInnen“ auszuüben und so großen finanziellen und psychischen Schaden anzurichten, unter dem auch die ganze Familie leidet. Selbst Sorgepflichten für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige gelten grundsätzlich nicht als Nachsichtsgrund!
    Dabei ist bekannt, dass kleine gelöste Probleme oder Hilfestellungen oft die Tür zur Lösung großer Probleme öffnen können und so Menschen auch frei macht für neue Aufgaben.

  • Unternehmen können auf ArbeiterInnen und Angestellte mit der Angst vor der Arbeitslosigkeit immer mehr Druck ausüben und mit schlechteren Arbeitsbedingungen und/oder Bezahlung agieren. Selbst Kollektivvertragsverhandlungen benötigen zur Durchsetzung von Interessen der ArbeitnehmerInnen zunehmend Warnstreiks und führen trotzdem oft nicht mehr zu den erwünschten Ergebnissen.
    Dabei könnte das AMS eine wirklich zentrale Schlüsselposition für eine ausgewogene Beschäftigungspolitik einnehmen. Die Herausforderungen der Zukunft werden eine ausgewogene Politik benötigen und ArbeitnehmerInnen, sie sich wieder mit ihren Unternehmen, bei denen sie beschäftigt sind, identifizieren. Nur dadurch sind Verbesserungen und Innovationen und ein Umgang mit herausfordernden Situationen überhaupt möglich, wie man auch jetzt in der Covid-Krise deutlich sieht.

  • Sozial höchst bedenkliche Wortmeldungen von Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, der im Sommergespräch 2021 über Menschen, die nicht jede Arbeit aufnehmen, von „Gift für die gesamte Gesellschaft“ sprach sowie von Arbeitsminister Martin Kocher, der Arbeitskräftemangel arbeitsunwilligen Menschen zuschreibt, die erst mit mittels Sanktionen „motiviert“ werden müssen, zeigen, dass es für das AMS und ihre Arbeitsweise umgehend sozialere Arbeitsweisen benötigt, um keine weitere Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen.

Oberste Vertreter der Bundesregierung oder politischer Parteien müssen sofort eingebremst werden, wenn sie die Herausforderungen von ArbeitnehmerInnen und arbeitslosen Personen derart niederschmetternd abtun anstatt verbesserte Hilfestellungen zu überlegen und einzuführen.

Bereits 2009 wurde im Paper 27 „Arbeitslosigkeit und Gesundheitszustand unter spezieller Berücksichtigung älterer Arbeitsloser“ der Oberösterreichischen Gesundheitskasse in Bezug auf Erkrankungen arbeitsloser Menschen festgestellt, dass „die Hypothese der SystembetrügerInnen wissenschaftlich betrachtet irrelevant“ ist. „Sie wird jedoch in landläufiger Meinung gerne verwendet, um arbeitslosen Menschen ihre Situation selbst zuzuschreiben und von politischen Institutionen benutzt, um durch populistische Maßnahmen Stimmenfang zu betreiben.“

Das AMS benötigt somit insofern eine neue Ausrichtung, weg von der Abhängigkeit negativ stimmungs- und meinungsmachender Politik und einem Sanktionenregime hin zu einer echten unterstützenden Einrichtung und zu einer Institution, die in vielen Richtungen für einen ausgewogenen Arbeitsmarkt Sorge tragen kann, ohne Menschen unter Druck zu setzen, sondern durch richtige Förderung.

Deshalb beantragt das AK-Team FAIR UND TRANSPARENT
nach Abstimmung mit der unabhängigen Initiative „Aktive Arbeitslose Österreich“:

Die Vollversammlung der Arbeiterkammer Wien spricht sich grundsätzlich und vehement gegen überbordende Sanktionen des AMS aus und beschließt daher:

  • Der Arbeitsminister wird nachdringlich aufgerufen, das Menschenrecht auf frei gewählte Arbeit endlich umzusetzen und die Sanktionen des AMS in einem sofortigen Schritt zumindest entsprechend den Urteilen des EuGH und des BVerfG zu entschärfen.

  • Die Arbeiterkammer Wien wird gemeinsam mit den Gewerkschaften und den weiteren Arbeitsloseninitiativen einen Aktionsplan zur Abschaffung von Sanktionen des AMS und eine Aktionsplattform zur echten Förderung und passenden Unterstützung arbeitsloser Menschen ins Leben rufen und umsetzen.

  • Unterstützend möge die Arbeiterkammer Wien in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Arbeitsloseninitiativen wissenschaftliche Studien in Auftrag geben, die Ausmaß, Ursachen, Prüfung, Umsetzung und vor allem die vielfältigen negativen Auswirkungen von Sanktionen gegen Arbeitslose und Armutsbetroffene bei AMS, Mindestsicherung, Rehabgeld usw. untersuchen.

  • Die Arbeiterkammer Wien setzt sich vehement auch beim Reform-Dialog dafür ein, dass das AMS zu einer echten unterstützenden und fördernden Einrichtung für Erwerbsarbeit suchende Menschen wird, weg von breitgestreuten negativen Sanktionen und hin zu einer auf Vertrauen aufbauenden Institution wird, die für einen ausgewogenen Arbeitsmarkt Sorge tragen kann.

 

Schlagworte