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Brief an Arbeitsminister Martin Kocher zur Enquete AlVG Neu: Betroffenenselbstorganisationen richtig einbeziehen plus Forderungen!

Soumis par Aktive Arbeits… le lun, 07.03.2022 - 12:04
Angaben zum Brief
Brief abgesendet

Herrn Bundesminister
Mag. Dr. Martin Kocher
Bundesministerium für Arbeit
Taborstraße 1-3
1020 Wien

E-Mail: buero.kocher@bma.gv.at

Wien / Söchau 4.3.2022

Sehr geehrter Herr Bundesminster Univ. Prof. Dr. Martin Kocher,

Danke für die Bestätigung unserer Teilnahme an der parlamentarischen Enquete „Arbeitslosenversicherung neu“ am 7.3.2022 und die Zuweisung zur „Arbeitsgruppe 3 – Videokonferenz“ die wir gestern erhalten haben. Leider können wir dem Programm immer noch keinerlei inhaltliche Ausrichtung entnehmen, auch nicht die Namen der Verteter*innen der Parlamentsfraktionen, nicht einmal ein Thema für die Arbeitsgruppe 3 oder sonst Hinweise, was genau auf dieser Enquete geschehen soll.

Sie werden wohl mit uns übereinstimmen: Das ist ein Vorgehen, das eines Wissenschafters doch unwürdig ist! Möglicherweise wurden Sie noch nicht über unsere Betroffenenrechte informiert sowie dass die Vereinten Nationen im Herbst 2013 der Österreichischen Regierung in den abschließenden Empfehlungen der 5. Staatenprüfung der UNO über die Umsetzung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (an der Aktive Arbeitslose als Teil der NGO-Delegation teilgenommen hatten1) folgenden Arbeitsauftrag mitgegeben haben (unsere Hervorhebungen):

„16. Der Ausschuss ist darüber besorgt, dass die Jugendarbeitslosenquote trotz Einführung von Lehrlings- und Berufsausbildungsmöglichkeiten weiterhin 60 Prozent über der Arbeitslosenquote für Erwachsene liegt. Er ist auch über die hohe Anzahl von Menschen besorgt, die mit Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert sind, und dass die Bedingungen für die Aussetzung von Arbeitslosenunterstützung möglicherweise nicht das Recht eines/einer jeden respektiert, seinen/ihren Lebensunterhalt durch eine frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen (Art. 6, 7 und 9).

... Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat auch auf, sicherzustellen, dass die Aussetzung von Arbeitslosenunterstützungen nicht das Recht eines/einer jeden verletzt, seinen/ihren Lebensunterhalt durch eine frei gewählte oder angenommene Arbeit – gemäß Art. 6 des Paktes – zu verdienen, und dass ein regelmäßiger und offener Dialog zwischen Arbeitsmarktservice und Arbeitslosen geführt wird, um individuelle Bedürfnisse und Anliegen zu berücksichtigen.“2

Mitbestimmungsrechte von uns Betroffenen und deren Selbstvertretung folgen auch aus dem ILO Übereinkommen 122, Übereinkommen über die Beschäftigungspolitik und aus der ILO Empfehlung 202, Empfehlung über den nationalen Basisschutz. (Auszüge im Anhang).

In einem ergänzenden Vorschlag zu ILO Empfehlung 202 führt der UN Menschenrechtshochkommissar aus: „States must put in place adequate mechanisms for beneficiaries to participate in the design,implementation, monitoring and evaluation of social protection programmes. Participatory mechanisms must ensure that participation is authentic, takes into account the existing asymmetries of power within the community and is tailored to ensure the broadest participation possible by vulnerable and disadvantaged groups.“3

Es wäre daher zumindest gut gewesen, eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema „Rechte und Mitbestimmung der Betroffenen“, und zwar dauerhafte, für uns Betroffenenselbstorganisationen einzurichten und die von der Volksanwaltschaft im Herbst 2015 nur kurz und halbherzig geführte Gesprächsrunde wieder weiter zu führen und dabei unsere diesbezüglichen Vorschläge, die wir damals auch an das Sozialministerium übermittelt und darauf keine Antwort erhalten hatten, zu berücksichtigen (siehe Anhang).

Wir weisen bezüglich der UN-Forderung über das Sanktionenregime darauf hin, dass mittlerweile sowohl das Deutsche Bundesverfassungsgericht am 5.11.2019 (Entscheidung 1 BvL 7/164) als auch de Europäische Gerichtshof am 12.11.2019 (Entscheidung C‑233/185) festgestellt haben, dass Sanktionen unter das Existenzminimum mit den Grundrechten in einer Demokratie bzw. mit der Europäischen Grundrechtecharta unvereinbar sind und dass eine menschenwürdige Existenz unter allen Umständen sicher zu stellen ist! Wir haben damals diese Urteile auch durch zwei Presseaussendungen bekannt gemacht!6

Wir weisen darauf hin, dass gerade auch bei den sozialen Menschenrechten das Levelling-Up-Prinzip gilt und somit von der UNO keine Verschlechterungen akzeptiert werden.

Unsere wichtigsten Forderungen daher:

  • Anhebung des AMS-Bezugs auf mindestens 70%, für geringe Einkommen auf 80% (siehe auch Volksbegehren „Arbeitslosengeld rauf“). Fortführung des 150-Euro-Coronazuschusses. Angesichts steigender Inflation: Wiedereinführung der Wertsicherung für AMS-Bezüge! Verdreifachung des Familienzuschlags!

  • Abschaffung der Existenzbedrohung durch das Sanktionenregime, freie Kurswahl (= einfachste Qualitätssicherung!), Menschenrecht auf freie Wahl einer Existenz sichernden Arbeit wirksam umsetzen!

  • Mitbestimmung von Betroffenenselbstorganisationen in den Aufsichtsgremien des AMS bzw. Einrichtung einer Arbeitslosenanwaltschaft als Rechtsdurchsetzungsagentur und Mitbestimmungsplattform für Betroffenenselbstorganisationen mit politischen und wissenschaftlichen Beirat sowie ausreichendem Budget für Förderung von Arbeitslosenselbsthilfeprojekten (siehe Erläuterungen Regierungsentwurf AMSG § 34)

  • Möglichkeit für Härtefallregelungen (z.B. wegen versäumter Termine für Abgabe von Antragsformularen, Rückmeldungen Krankenstand usw.) z.B. durch Ausweitung der Kompetenzen der Regionalbeiräte.

Weitere Verbesserungsvorschläge zur Arbeitslosenversicherung entnehmen Sie bitte dem beigefügten Forderungskatalog.

Wir gehen davon aus, dass Sie als von der Wissenschaft kommender Arbeitsminister bestrebt sein werden, die völkerrechtlichen Verpflichtungen Österreichs ernst zu nehmen und die längst überfällige Weiterentwicklung der von der Arbeiter*innenbewegung erkämpften Arbeitslosenversicherung vorantreiben, damit diese wieder ihren ursprünglichen Zielen einer selbstverwalteten Sozialversicherung entspricht.

Mit basisgewerkschaftlichen und menschenrechtsfreundlichen Grüßen

Mag. Ing. Martin Mair

Obmann „Aktive Arbeitslose Österreich“

Anlage: Forderungskataloge Aktive Arbeitslose Österreich
 


Anhang:

Auszüge aus ILO Übereinkommen 122, Übereinkommen über die Beschäftigungspolitik (BGBl. Nr. 355/1972)

Artikel 1

Um das wirtschaftliche Wachstum und die wirtschaftliche Entwicklung anzuregen, den Lebensstandard zu heben, den Arbeitskräftebedarf zu decken sowie die Arbeitslosigkeit und die Unterbeschäftigung zu beseitigen, hat jedes Mitglied als eines der Hauptziele eine aktive Politik festzulegen und zu verfolgen, die dazu bestimmt ist, die volle, produktive und frei gewählte Beschäftigung zu fördern.

Diese Politik muß zu gewährleisten suchen,

  1. daß für alle Personen, die für eine Arbeit zur Verfügung stehen und Arbeit suchen, eine solche vorhanden ist;

  2. daß diese Arbeit so produktiv wie möglich ist; [das heisst auch: so gut bezahlt wie möglich!]

  3. daß die Wahl der Beschäftigung frei ist und jeder Arbeitnehmer alle Möglichkeiten hat, die notwendige Befähigung für eine ihm zusagende Beschäftigung zu erwerben und seine Fertigkeiten und Anlagen bei dieser Beschäftigung zu verwenden, und zwar ohne Rücksicht auf Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Glaubensbekenntnis, politische Meinung, nationale Abstammung oder soziale Herkunft.

Diese Politik hat den Stand und die Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung sowie die Wechselbeziehungen zwischen Beschäftigungszielen und anderen wirtschaftlichen und sozialen Zielen gebührend zu berücksichtigen und ist mit Methoden zu verfolgen, die den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten entsprechen.

Artikel 2

Jedes Mitglied hat mit Methoden, die den innerstaatlichen Verhältnissen entsprechen und soweit es die innerstaatlichen Verhältnisse gestatten,

  1. im Rahmen einer koordinierten Wirtschafts- und Sozialpolitik die Maßnahmen zu beschließen und ständig zu überprüfen, die zur Erreichung der in Artikel 1 angegebenen Ziele zu treffen sind;

  2. die Schritte zu unternehmen, welche für die Durchführung dieser Maßnahmen notwendig sein können, allenfalls einschließlich der Aufstellung von Programmen.

Artikel 3

Bei der Durchführung dieses Übereinkommens sind Vertreter der Personen, die von den beabsichtigten Maßnahmen betroffen werden, und insbesondere Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in Bezug auf die Beschäftigungspolitik anzuhören, damit deren Erfahrung und Meinung volle Berücksichtigung finden und damit ihre volle Mitarbeit bei der Ausarbeitung dieser Politik und somit die Unterstützung dieser Politik gesichert werden.


Auszüge aus ILO Empfehlung 202: Empfehlung betreffend den innerstaatlichen sozialen Basisschutz

Dieses Übereinkommen ist am 30. Mai 2012 in Kraft getreten.

Beschlussfassung: ILO-Tagung 100, Genf

I. ZIELE, GELTUNGSBEREICH UND GRUNDSÄTZ

3. In Anbetracht der Gesamt- und Hauptverantwortung des Staates sollten die Mitglieder bei der Durchführung dieser Empfehlung die folgenden Grundsätze anwenden:

f) Achtung der Rechte und der Würde der Menschen, die durch die Garantien der Sozialen Sicherheit erfasst werden;

r) dreigliedrige Beteiligung mit repräsentativen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie Beratung mit anderen in Frage kommenden und repräsentativen Organisationen betroffener Personen.

II. INNERSTAATLICHE BASISNIVEAUS FÜR SOZIALSCHUTZ

8. Bei der Festlegung der grundlegenden Garantien der Sozialen Sicherheit sollten die Mitglieder Folgendes gebührend berücksichtigen

c) die Niveaus der grundlegenden Garantien der Sozialen Sicherheit sollten durch ein transparentes Verfahren regelmäßig überprüft werden, das, je nach Fall, durch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder die innerstaatliche Praxis festgelegt wird;

und

d) hinsichtlich der Festlegung und Überprüfung der Niveaus dieser Garantien sollte eine dreigliedrige Beteiligung mit repräsentativen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie die Beratung mit anderen in Frage kommenden und repräsentativen Organisationen betroffener Personen sichergestellt werden.

III. INNERSTAATLICHE STRATEGIEN ZUR AUSWEITUNG DER SOZIALEN SICHERHEIT

14. Bei der Formulierung und Umsetzung der innerstaatlichen Strategien zur Ausweitung der Sozialen Sicherheit sollten die Mitglieder:

f) das Bewusstsein für ihre Basisniveaus für Sozialschutz und ihre Ausweitungsstrategien schärfen und Informationsprogramme durchführen, auch im Rahmen des sozialen Dialogs.

IV. ÜBERWACHUNG

19. Die Mitglieder sollten die Fortschritte bei der Verwirklichung der Basisniveaus für Sozialschutz und beim Erreichen anderer Ziele der innerstaatlichen Strategien zur Ausweitung der Sozialen Sicherheit durch geeignete, auf innerstaatlicher Ebene festgelegte Mechanismen überwachen, einschließlich dreigliedriger Beteiligung mit repräsentativen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie Beratung mit anderen in Frage kommen den und repräsentativen Organisationen betroffener Personen.

20. Die Mitglieder sollten regelmäßig innerstaatliche Konsultationen einberufen, um Fortschritte zu bewerten und Politiken für die weitere horizontale und vertikale Ausweitung der Sozialen Sicherheit zu erörtern.

1https://www.aktive-arbeitslose.at/news/ein_erfolg_fuer_die_arbeitsloseninitiativen_uno_kritisiert_das_sanktionenregime_und_die_mindestsicherung.html

2https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=E/C.12/AUT/CO/4&Lang=en
Nicht amtliche Übersetzung durch das Außenministerium:
https://www.aktive-arbeitslose.at/sites/aktive-arbeitslose.at/files/download/CESCR_4_oesterreichische_Staatenpruefung_UNO_Empfehlungen.pdf

3https://www.ohchr.org/Documents/Issues/EPoverty/briefSPILO_Recommendation101.pdf

4https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-074.html

5https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=220532&doclang=DE

6https://www.aktive-arbeitslose.at/recht/bundesverfassungsgericht_hartz_iv_sanktionen_teilweise_aufgehoben.html
https://www.aktive-arbeitslose.at/pressemitteilungen/eugh_erklaert_sanktionen_fuer_eu_widrig_menschenwuerdige_existenz_muss_bedingungslos_garantiert_werden.html

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