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Ivan Illich: Nützliche Arbeitslosigkeit - eine gesellschaftliche Alternative

Aktiver Admin am Fr., 16.02.2018 - 22:35

Gegenwärtig ist es so, daß jedes von den Experten attestierte Bedürfnis früher oder später in ein Recht umgewandelt wird. Der politische Zwang, jedes dieser Rechte auch durchzusetzen, schafft immer neue Lohnarbeitsverhältnisse (Jobs) und Waren.

Jede neue Ware aber zerstört eine Aktivität, mit der die Menschen bislang aus eigener Kraft ihr Leben meisterten; jeder neue Job macht eine Arbeit illegal, die bislang von den Unbeschäftigten verrichtet wurde. Die Vollmacht der Experten, Maßstäbe dafür zu setzen, was gut und richtig ist und was getan werden soll, läßt den Wunsch, die Bereitschaft und auch die Fähigkeit des ‚einfachen‘ Mannes verkümmern, nach seinem eigenen Maß zu leben.

Wenn alle gegenwärtig an amerikanischen Universitäten immatrikulierten Jurastudenten ihr Diplom erhalten, dann wird die Zahl der amerikanischen Rechtsanwälte um etwa 50 Prozent zunehmen. Rechtspflege wird dann ergänzend neben die Gesundheitspflege treten, und die Rechtsschutzversicherung wird in ähnlichem Maß als lebensnotwendig gelten wie heute die Krankenversicherung. Wenn aber das Recht des Bürgers auf den Beistand des Anwalts eingeführt ist, dann wird die Beilegung eines Streits im Wirtshaus als unaufgeklärt oder gar als antisozial gebrandmarkt, wie es heute mit der Hausgeburt geschieht. Das Recht jedes Einwohners von Detroit, in einem Haus mit elektrischem Anschluß zu leben, macht schon heute jeden Autoelektriker, der zu Hause seine eigenen Leitungen verlegt, zum Gesetzesbrecher. So verlieren die Menschen ein Privileg nach dem anderen, sich außerhalb ihrer Jobs und ohne die Kontrolle durch Experten nützlich zu betätigen, und dies ist die bisher unbekannte, aber am meisten gefürchtete Erfahrung, die mit der modernisierten Armut einhergeht.

Das bedeutsamste Privileg eines hohen sozialen Status könnte heute ohne weiteres in der Freiheit zu nützlicher Arbeitslosigkeit bestehen, wie sie der großen Mehrheit zunehmend verweigert wird. Der hartnäckige Anspruch auf das Recht, von Spezialisten versorgt und mit Waren beliefert zu werden, hat sich schon beinah in das Recht von Industrien und Expertenzünften verwandelt, Kunden und Klienten einzufangen, sie mit ihren Produkten und Dienstleistungen zu beliefern und damit jene Umweltbedingungen zu zerstören, die einst nicht entlohnte Aktivitäten nützlich machten.

Der Kampf um eine gerechtere Verteilung von Zeit und Fähigkeit, sich außerhalb von Lohn- und Dienstverhältnissen nützlich für sich selbst und andere zu betätigen, wird dadurch gelähmt. Arbeit, die außerhalb des formalen Beschäftigungsverhältnisses geschieht, wird verächtlich gemacht oder ignoriert. Autonome Aktivitäten bedrohen den Arbeitsmarkt, erzeugen soziale Abweichung und mindern das Bruttosozialprodukt. Das Wort ‚Arbeit‘ ist daher eine unzutreffende Bezeichnung des Sachverhalts. Arbeit bedeutet nicht mehr Anstrengung oder Mühe, sondern ein mysteriöses Beiwerk der produktiven Investitionen in technische Anlagen.

Arbeit ist nicht mehr die Schaffung eines Wertes, den der Arbeiter als solchen erkennt, sondern ein Job, also eine soziale Beziehung. Arbeitslosigkeit bedeutet trostlosen Müßiggang, nicht mehr die Freiheit, Dinge zu tun, die für mich oder meinen Nachbarn nützlich sind. Eine aktive Frau, die ihren Haushalt führt, ihre Kinder erzieht, zuweilen sogar noch andere Kinder aufnimmt, wird diskriminiert gegenüber einer Frau, die arbeiten geht - ganz gleich, wie nutzlos oder gar schädlich die Produkte ihrer Arbeit sind, Aktivität, eigene Bemühung, Leistung und Dienst außerhalb einer hierarchischen Beziehung – allesamt durch die genormten Maßstäbe der Experten nicht zu erfassen – sind Gefahren für eine warenintensive Gesellschaft. Die Erzeugung von Gebrauchswerten, die sich der Effizienzmessung entziehen, beschränkt nicht nur das Bedürfnis nach mehr Waren, sondern vermindert auch die Zahl der Jobs, durch die diese geschaffen werden, sowie den Inhalt der Lohntüten, den man braucht, um sie zu kaufen.

Was in einer marktintensiven Gesellschaft einzig zählt, ist nicht die Bemühung um Freude oder Genuß, sondern die Koppelung der Arbeitskraft des Menschen ans Kapital. Worauf es ankommt, ist nicht die Befriedigung, die sich aus dem eigenen Handeln ergibt, sondern der Status der sozialen Beziehung, die die Produktion regelt: der Job, die Stellung, der Posten, das Amt.

Im Mittelalter gab es kein Heil außerhalb der Kirche, und die Theologen hatten alle Mühe zu erklären, was Gott eigentlich mit solchen Heiden machte, die offenbar tugendhaft und heilig lebten. Ähnlich gelten eigene Anstrengungen in der modernen Gesellschaft nicht als produktiv, solange sie nicht auf Geheiß eines Chefs erfolgen, und die Ökonomen haben alle Mühe, die offenkundige Nützlichkeit der Menschen zu erklären, wenn diese sich außerhalb der korporativen Kontrolle eines,Unternehmens, eines freiwilligen Arbeitsdienstes usw. betätigen. Arbeit ist nur dann produktiv, respektabel und des Staatsbürgers würdig, wenn der Arbeitsprozeß durch einen Experten geplant, überwacht und kontrolliert wird, der gewährleistet, daß die Arbeit in standardisierter Form ein lizensiertes Bedürfnis erfüllt.

In einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft scheint es unmöglich zu sein, Arbeitslosigkeit als Voraussetzung für autonome, nützliche Arbeit anzustreben oder auch nur sich vorzustellen. Die Infrastruktur der Gesellschaft ist so beschaffen, daß nur der entlohnte Job Zugang zu Produktionswerkzeugen gewährt, und dieses Monopol der Warenproduktion über die Schaffung von Gebrauchswerten wird in dem Maß verschärft, wie der Staat sich in alle Bereiche einmischt. Nur mit einem entsprechenden Diplom darf man ein Kind unterweisen; nur in einer Klinik darf man ein gebrochenes Bein schienen. Hausarbeit, Handwerk, Subsistenzlandwirtschaft, radikale Technologie, gegenseitiges Lernen usw. - all dies verkommt zu Aktivitäten für unproduktive Müßiggänger, die sehr Armen oder die sehr Reichen.

Eine Gesellschaft, die sich intensiv von Waren abhängig macht, macht ihre Arbeitslosen daher zu Armen oder Wohlfahrtsempfängern. Noch 1945 kamen auf einen Versicherungsfall 35 Berufstätige. 1977 müssen 3,2 Beschäftigte einen Rentner, Arbeitslosen oder Fürsorgeempfänger unterstützen, der selbst auf wesentlich mehr Dienstleistungen angewiesen ist, als sein pensionierter Großvater sich vorstellen konnte.

Zukünftig wird die Qualität einer Gesellschaft und ihrer Kultur vom Status ihrer Arbeitslosen abhängig sein: werden sie ganz repräsentative, produktive Staatsbürger sein – oder werden sie Abhängige sein? Wiederum ist klar, um welche Entscheidung oder Krisis es geht. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft kann sich zu einem Unternehmenskartell entwickeln, das mühsam hinter dem Traum der sechziger Jahre herhinkt – zu einem rationierten Verteilungssystem, das seinen Bürgern immer wertlosere Waren und trostlosere Arbeitsplätze, für immer standardisierten Konsum und immer ohnmächtigere Arbeit, zuweist. Diese Konsequenz ergibt sich aus den politischen Perspektiven der meisten heutigen Regierungen, von Deutschland bis China, wenngleich es beträchtliche graduelle Unterschiede gibt: je reicher das Land, desto dringender erscheint die Aufgabe, die Arbeitsplätze zu rationieren und nützliche Arbeitslosigkeit zu verhindern, die den Arbeitsmarkt bedrohen könnte. Gewiß aber ist auch das Gegenteil möglich: nämlich eine moderne Gesellschaft, in der die frustrierten Arbeiter sich organisieren und das Freiheitsprivileg des Menschen schützen, sich außerhalb der Warenproduktion nützlich zu betätigen. Diese gesellschaftliche Alternative ist aber wiederum davon abhängig, daß der einfache Mann der Verwaltung seiner Bedürfnisse durch Experten mit einer neuen, rationalen und skeptischen Kompetenz begegnet.“

Schöpferische Arbeitslosigkeit oder die Grenzen der Vermarktung, in: Fortschrittsmythen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983

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