Sorry, you need to enable JavaScript to visit this website.

Hinweis zu E-Mail-Anfrage: Aus technischen Gründen und aus Gründen des Datenschutzes und der Netzpolitik bitte Google und gmx meiden! Weitere Infos

Adolf Merkl: Ist in Österreich ein Ausnahmezustand zulässig?

Aktiver Admin am Do., 19.03.2020 - 08:46

Anmerkung: Der österreichische Begriff des Ausnahmszustandes wurde hier um in Suchmaschinen gefunden zu werden durch den bundesdeutschen Ausnahmezustand ersetzt

Juristische Blätter

9. Jahrgang, Nr. 19, 11. Oktober 1930 (Seite 397 - 399)

Von Universitätsprofessor Dr. Adolf Merkl

Das Manuskript zu diesem Aufsatz liegt der Schriftleitung seit August vor. Heute hat es durch die unmißverständliche Drohung mit Verfassungsbruch, die der zum Hüter der Verfassung ausersehene Minister für gut befunden hat, unvermutet Aktualität gewonnen. Das Manuskript sei nur um die eine Feststellung ergänzt, das auch der Gebrauch der Verfassung zu irgendwelchen Maßnahmen eines Ausnahmezustandes ein Verfassungsbruch wäre. Der Art, 102 B-VG. böte zu solchen Maßnahmen keine Handhabe, sondern höchstens einen Vorwand.

Der Verfasser.

Eine der radikal-demokratischen Gesten der Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 war die Abschaffung des Ausnahmezustandes als Verfassungseinrichtung. Der Weg dieses scheinbaren Wagnisses war die Streichung des Art. 20 aus dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, das im übrigen in den Katalog der Verfassungsrechtsquellen Art. 149 B-VG aufgenommen worden ist. Manche Schriften und Politiker des Auslandes, die von der österreichischen Eigentümlichkeit Kenntnis erhielten, sind über diese vermeintliche Überspitzung des Prinzips der bürgerlichen Freiheit erstaunt und fragten gelegentlich, wie ohne ein solches Notrecht ein Staat regiert werden könne. Die bald zehnjährige Staatspraxis seit dem Inkrafttreten Bundesverfassung widerlegt indes derlei Zweifel, und der österreichischen Öffentlichkeit. Kam das Fehlen einer verfassungsgesetzlichen Ermächtigung zur Verhängung eines Ausnahmezustandes eigentlich erst zum Bewußtsein, als nach dem denkwürdigen 15. Juli 1927 behauptet wurde, die Ereignisse hätten sich verhüten Lassen, oder hätten wenigstens nicht ihren Zwang angenommen, wenn ihnen mit den Handhaben eines Ausnahmegesetzes hätte vorgebeugt oder wenigstens entgegengetreten werden können. Die Richtigkeit dieser Behauptung mag dahingestellt bleiben; jedenfalls war nach diesen Vorgängen unter den mancherlei Unbegreiflichkeiten des Regierungsentwurfes der Verfassungsreform der Vorschlag der Wiedereinführung einer Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustandes am begreiflichsten, Ein solcher Vorschlag könnte nicht bloß mit der altösterreichischen Tradition, sondern auch damit gerechtfertigt werden, dass eine derartige Ermächtigung au zum unangefochtenen Requisit unzweifelbar demokratischer Staaten — z.B. Englands oder des Deutschen Reiches — gehört. Selbst der strengste Kritiker des Verfassungsentwurfes mußte auch zugeben, die Fassung des Ausnahmezustandes im Regierungsentwurfes, verglichen mit dem Artikel 20 des altösterreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, und insbesondere auch mit der Ermächtigung des Art. 48 der deutschen Reichsverfassung verhältnismäßig maßvoll sei. Bekanntlich ist die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustandes dem Einspruch der Opposition zum Opfer gefallen. Es war wohl mehr die Reminiszenz an die Erfahrungen mit dem Ausnahmezustand in der österreichischen Monarchie und wirklichkeitsfremder Doktrinarismus die ??he davon, das die Opposition den Ausnahmezustand um den Preis ihrer Zustimmung zu viel einschneidenderen Neuerungen, namentlich zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit und zur Einführung des selbstständigen Verordnungsrechts der Polizeibehörden unter allen Umständen abgelehnt hat. Fast scheint es nun, als wäre diese opferreiche Bekämpfung des Ausnahmezustandes nicht nur eine irrationelle sondern auch eine vergebliche Bemühung gewesen, denn nach einer sehr beachtlichen, wenngleich meines Erachtens rechtsirrtümlichen Auslegung, hat nun doch die Ermächtigung zum Ausnahmezustand im B-VG Unterkunft gefunden, aber nicht in der harmlosen, den Vorbildern echter Demokratien folgenden. Gestalt, die im Regierungsentwurf vorgesehen war, sondern in einer durch ihre Uferlosigkeit höchst bedenklichen Fassung.

Wo steckt nun und was besagt diese angebliche Ermächtigung zum Ausnahmezustand? Der letzte Absatz des Artikels 102. B-VG, der im übrigen von der mittelbaren Bundesverwaltung handelt, lautet: „Ergibt sich in einzelnen Gemeinden die Notwendigkeit, wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung besondere Maßnahmen zu treffen, so kann der zuständige Bundesminister mit diesen Maßnahmen für die Dauer der Gefährdung eigene Bundesorgane betrauen.“ Es ist an und für sich sehr unwahrscheinlich, an diesem systematischen Ort die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustandes suchen zu müssen; indes zwingt ja berechtigt nicht einmal diese Wendung, der zitierten. Verfassungsbestimmung einen solchen Sinn zu geben. Diese Sinngebung wurde für mich überhaupt erst dadurch fraglich, das sie kürzlich von sehr beachtlicher Seite versucht wurde1.

Die grammatische Auslegung unserer Gesetzesstelle lässt nur soviel erkennen, das irgend ein Bundesminister zu irgendwelchen Maßnahmen im Falle der Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung irgendwelche Bundesorgane delegieren kann. Antwort versagt die Wortauslegung insbesondere auf die zwei Kragen, welcher Minister die gegenständliche Ermächtigung erteilen und auf welche Maßnahmen sie sich beziehen kann.

Scheinbar liegt in dem Attribute „zuständig” („der zuständige Bundesminister”) eine erschöpfende Antwort auf die erste der beiden Fragen. Indes in einem Sinne, der der Bestimmung die wertvollste aktuelle Anwendbarkeit nimmt. Als zuständig ist nämlich nur der Minister anzusehen, der durch Gesetz oder eine andere gesetzeskräftige Rechtsquelle für Verwaltungsakte bestimmter Art zuständig erklärt ist. Es ist eine typische Laienmeinung, das sich die Zuständigkeit eines Ministers aus dem Agendenkreis seines Ministeriums vom selbst verstehe, das z. B. ein Minister für soziale Verwaltung für alle denkbaren Agenden der sozialen Verwaltung, ein Minister für Heereswesen für alle denkbaren militärischen Angelegenheiten zuständig sei, und das der bestehende Wirkungskreis eines Ministers einen Rückschluß auf die Zuständigkeit in neu auftauchenden Angelegenheiten zulasse. Durch derart unbestimmte Blankette könnte allerdings die Zuständigkeit der einzelnen Minister geregelt sein; die tatsächliche Tätigkeit eines Ministers oder Ministeriums ergäbe sich bei dieser Ordnung aus der summe der Möglichkeiten, innerhalb deren das mit der Blankettvollmacht ausgestattete Organ die engere Auswahl zu treffen für gut findet; das Verwaltungsorgan schafft sich bei dieser Methode der Zuständigkeitsregelung innerhalb eines vom Gesetz umschriebenen Rahmens nach freiem Ermessen seinen Wirkungskreis, es bleibe dahingestellt, ob die [Seite 398] Zuständigkeitsordnung der österreichischen Monarchie dieser geradezu landläufigen Vorstellung entsprochen hat. Ich habe dieser Annahme schon immer widersprochen, unterlasse aber den heute nicht mehr aktuellen Beweis für diese Behauptung. Sicher ist jedoch, daß eine solche Annahme der durch die Bundesverfassung geschaffenen Rechtslage nicht mehr entspricht. Auch die Bestimmung des Artikels 102, Abs. 7 B-VG. darf nicht bloß aus ihrer Wortbedeutung heraus, sondern nur aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassungsurkunde, im besonderen im Zusammenhalt mit den Artikeln 18, Abs. 1, und 77, Abs. 2 B-VG. ausgelegt werden. Hienach unterliegt auch die Frage der Zuständigkeit eines Ministers — als eines obersten Verwaltungsorganes — dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung schon der Rechtssatz des Artikels 18, Abs. 1, B-VG., wonach die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf, bedingt eine gesetzliche Bezeichnung des Organes, das zu den gesetzlich bestimmten Verwaltungshandlungen zuständig sein soll. Denn das Mindestmaß der gesetzlichen Konkretisierung einer Verwaltungstätigkeit besteht darin, daß nicht bloß die Tätigkeit bezeichnet wird, die der Staat verrichten darf oder soll, sondern das auch das Organ namhaft gemacht wird, das namens des Staates handeln darf oder soll. Während es nun die Verfassung im allgemeinen der einfachen Gesetzgebung überlässt, die Organe zu bestimmen, die für die gesetzlich bestimmten Verwaltungshandlungen zuständig sein sollen, oder anders gesehen, den Wirkungskreis zu bestimmen, der den gesetzlich bestimmten Organen zustehen soll, gibt es gewisse Vollzugsorgane, für deren Rechtsstellung sich die Verfassung näher interessiert. Deren Organstellung wird teils zur Gänze unmittelbar von der Verfassung umschrieben, teils nur in bestimmten Punkten verfassungsgesetzlich geregelt. Jenes trifft namentlich vom Bundespräsidenten und von der Bundesregierung zu, dieses ist insbesondere bei den Bundesministern der Fall. Bis auf einen Punkt wird nämlich die Rechtsstellung der Minister, so die Bestellung, Abberufung, Verantwortlichkeit, erschöpfend von der Verfassung geregelt. Dieser eine verfassungsgesetzlich ungeregelte Punkt ist die Zuständigkeit der Ministerien und damit auch der Minister, denn die Minister sind nach Art. 77, Abs. 3, die Leiter der Ministerien und teilen als solche deren Wirkungskreis. Zur Bestimmung der Zuständigkeit der Bundesministerien und damit auch der Minister delegiert nun die Bundesverfassung die einfache Bundesgesetzgebung. „Die Zahl der Bundesministerien, ihr Wirkungskreis und ihre Einrichtung werden durch Bundesgesetz bestimmt.“ (Art. 77, Abs. 2, B-VG.) Der Ton dieses Satzes liegt auf dem Worte Bundesgesetz, jedoch nicht etwa in dem Sinne, das eine Erschwerung dieser Regelung durch Vorschreibung des legislativen anstelle des administrativen Weges bewirkt werden soll, sondern in dem umgekehrten Sinne, daß für die nähere Regelung einer verfassungsmäßigen Institution, als die die Bundesministerien anzusehen sind, der Weg der einfachen Bundesgesetzgebung anstelle der für die Regelung anderer Vollzugsorgane bemühten Verfassungsgesetzgebung genügen soll. Den Bundesgesetzen stehen andere Rechtsquellen an Gesetzeskraft gleich, z. B. gesetzeskräftige Verordnungen aus der Zeit der Republik und ältere Rechtsquellen, die durch die Generalklausel des § 2 Verf. Überg. Ges. in Bundesgesetze transformiert worden sind. Die gegenwärtige Kompetenz der Bundesministerien und Bundesminister summiert sich nun aus den Einzelkompetenzen, die in allen diesen Rechtsquellen, herkömmlich in der Vollzugsklausel, den einzelnen Ministern oder Ministerien übertragen worden sind. Die Kompetenz der österreichischen Bundesministerien oder Bundesminister ist also nicht durch eine Generalklausel, sondern nach der Enumerationsmethode bestimmt. Diese Enumeration findet sich jedoch nicht in einer einheitlichen Rechtsquelle, sondern auf zahlreiche Rechtsquellen verstreut, nämlich in allen je Rechtsquellen, die mit ihrer Vollziehung den nämlichen Minister oder das nämliche Ministerium betrauen. Bei der Ermittlung der Kompetenz sind allerdings auch alle jene Kompetenzverschiebungen zu berücksichtigen, die sich aus Errichtung oder Auflassung von Ministerien ergeben haben. Die bezüglichen Organisationsvorschriften haben die Bedeutung genereller Kompetenznormen, die sämtlichen Vollzugsklauseln derogieren, welche mit den neuen Organisationsnormen nicht in Einklang zu bringen sind. Wenn z. B. der Neugründung des Ministeriums „für soziale Fürsorge — nunmehr „für soziale Verwaltung“ — diesem Ministerium nebst anderen Agenden hauptsächlich die Aufgaben der staatlichen Sozialpolitik zugewiesen wurden, so wurde damit Bausch und Bogen allen jenen Vollzugsklauseln derogiert, die anderen Ministerien Aufgaben der sozialen Verwaltung gewiesen hatten. Im Hinblick auf diese derogatorische Funktion der Kompetenzordnung für neugegründete Ministerien gegenüber gesetzlichen Vollzugsklauseln, welche eine anderweitige Kompetenzregelung getroffen hatten, hat schon Monarchie darauf geachtet, die Kompetenzen neugegründeter Ministerien in Gesetzesform zu regeln, und zwar in der Weise, daß außer der das Ministerium gründenden kaiserlichen Entschließung ein eigenes Kompetenzgesetz ergangen ist. Umso mehr wurde die Gesetzesform in der Republik gewahrt, wofür die Wiederherstellung des vorübergehend aufgelassenen Justizministeriums ein Beispiel bietet.

Diese Rechtslage hat die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 angetroffen, ohne an ihr auch nur das Geringste, sei es auch mit Beschränkung auf die Handhabung des Art. 102, Abs. 7 B-VG, zu ändern. Es wurde also durch eine Bestimmung nicht schon irgend ein Minister zu irgendwelchen Maßnahmen unmittelbar zuständig gemacht, sondern es ist Bestimmung des „zuständigen“ Ministers auch für das Anwendungsbereich unserer Verfassungsbestimmung der einfachen Bundesgesetzgebung oder ihr an rechtlicher Kraft gleich kommenden Rechtssatzformen vorbehalten.

Ebenso wie die Frage, welcher Minister zu den Ruhe und Ordnung sichernden Maßnahmen zuständig soll, ist auch die Art und Weise dieser Maßnahmen von verfassungswegen offen und damit im Sinne des verfassungsgesetzlichen Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung näheren Bestimmung im Wege der Bundesgesetzgebung behalten geblieben. Denn dem Legalitätsprinzip des Art. 18 B-VG. ist nicht schon damit Genüge getan, daß das Organ bezeichnet ist, welches irgendetwas unternehmen darf, sondern auch der Gegenstand der Organkompetenz muß erkennbar sein. Darum ist die Ermächtigung des Art. 102, Abs. 7 nicht nur mangels Individualisierung des zuständigen Organs sondern auch mangels genügender Konkretisierung der Organfunktion nicht zur unmittelbaren administrativen Anwendung geeignet, sondern der legislativen Durchführung bedürftig. Für diese Durchführung gibt unsere Verfassungsbestimmung die Richtlinie, daß diese Maßnahmen wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung treffen werden können. Damit sind die Voraussetzungen der fraglichen ministeriellen Maßnahmen eingeengt, ihr Inhalt ist aber doch noch nicht erkennbar konkretisiert. Dies ist Grund, das selbst bei genügender Individualisierung des Organes“ zur Konkretisierung seiner Kompetenz die Gesetzgebung bemüht werden muß.

Für diese Durchführungsgenese ergibt sich wieder aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung die Inhaltsschranke, das die fraglichen Maßnahmen nicht verfassungsändernder Natur sein dürfen. Denn ein Gesetz das verfassungsändernde Verwaltungsakte zuläßt, ist selbst [Seite 399] verfassungsändernder Natur und somit an die Formen der Verfassungsgesetzgebung gebunden. Eine Ermächtigung zu verfassungsändernden Maßnahmen durch einfaches Gesetz oder nur durch Verwaltungsakt versteht sich nicht von selbst, sondern bedarf verfassungsgesetzlicher Zulassung. Allerdings brauchte eine solche Zulassung nicht explicite normiert zu sein, sondern könnte sich auch implicite verstehen. So könnte an vielleicht aus der Verfassungsbestimmung des Artikels 102, Abs. 7, B-VG., wenn schon nicht eine Ermächtigung zu verfassungsändernden Verwaltungsakten, so doch wenigstens zu verfassungsändernden Gesetzen mit der Begründung zu entnehmen versuchen, daß eine besondere Ermächtigung der Gesetzgebung für nicht verfassungsändernden Maßnahmen nicht erforderlich ist und daß somit die Verfassungsbestimmung, wenn man nur nicht die Ermächtigung zu verfassungsändernden Maßnahmen, sei es nun in Gesetzesform oder in Form von Verwaltungsakten, entnehmen könne, überflüssig und daher sinnlos wäre. Das ist sie aber, wie noch zu zeigen sein wird, nicht. Auch in der vorstehend dargelegten Auslegung, daß sowohl das Verwaltungsorgan als auch die Verwaltungshandlung durch Bundesgesetz zu bestimmen sind, und daß dieses Bundesgesetz im Rahmen der Verfassung halten muß, ergibt die Verfassungsbestimmung des Art. 102, Abs. 7, einen gewissen Sinn, wenngleich einen anderen, und zwar viel weniger weittragenden, als sich die Kodifikatoren gedacht haben mochten.

Selbstverständlich wäre ein Verfassungsgesetz imstande gewesen, mit bestimmten Maßnahmen zur Sicherung oder Herstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, und zwar selbst zu verfassungsändernden Maßnahmen einen bestimmten Minister unmittelbar zu betrauen, doch hat die Verfassungsgesetzgebung diese ausnahmsweise unmittelbare Delegierung eines Vollzugsorgans zu verfassungsvollziehenden oder verfassungsändernden Maßnahmen unterlassen, sei es nun bewußter- und bedachterweise, weil der Kodifikator in diesem Falle die Übergehung des Gesetzgebers vermeiden, an der dem Legalitätsprinzip eigentümlichen ??ediatisierung der Verwaltungshandlungen durch einfache formelle Gesetze festhalten wollte, oder unbeabsichtigt, weil er irrtümlich durch die Delegation des „zuständigen“ Ministers eine unmittelbar brauchbare Ermächtigung erteilt zu haben vermeinte. In diesem Falle stünde freilich zwischen dem gesetzgebungspolitisch Erstrebten und gesetzestechnisch Erreichten ein unerhörter Abstand. Gibt uns der Auslegungsversuch der oben zitierten kommentierten Gesetzesausgabe einen Fingerzeig für die Absichten der Kodifikatoren, war nicht weniger beabsichtigt, als das der sachlich in Frage kommende Minister — etwa der Bundeskanzler oder auch der Heeresminister — alle Maßnahmen, die er im Interesse der Sicherung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung erforderlich erachten wird, ohne Rücksicht auf ihre rechtliche Tragweite, im besonderen ohne Rücksicht auf ihren gesetzändernden oder gar verfassungsändernden Inhalt, unmittelbar auf Grund der Verfassungsbestimmung des Art. 102, Abs. 7 soll treffen können. Das wäre aber nicht weniger als die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustandes, nur zum Unterschied von der analogen Ermächtigung der Verfassungen der Rechtsstaaten, z. B. der österreichischen Monarchie und des gegenwärtigen Deutschen Reiches, keine sachlich beschränkte, auf die Suspension taxativ bezeichneter Grundrechte abgestellte, sondern eine uferlose Ermächtigung. Kein Grundrecht; ja eigentlich keine einzige Verfassungseinrichtung wäre vor dem Zugriff einer solchen ministeriellen Ausnahmeverfügung sicher, wenn sie sich nur auf eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung berufen kann. Und dabei beständen keinerlei rechtliche Sicherheiten gegen den politischen Mißbrauch dieser uferlosen Vollmacht. Ausnahmemaßnahmen, die in anderen Rechtsstaaten an komplizierte Formen gebunden sind, könnten nach der Absicht der österreichischen Verfassungskodifikatoren je nach dem Belieben eines Ministers in Verordnungs- oder Verfügungsform getroffen werden. Was in anderen Rechtsstaaten nur das Staatsoberhaupt oder die Regierung unter Kontrolle eines resolutiven parlamentarischen Veto vermag, das vermöchte in Österreich ein einzelner Minister, ohne daß irgend ein Kontrollorgan aus eigener Machtvollkommenheit diese Ausnahmeverfügungen aus der Welt schaffen könnte. Es würde zu weit führen, alle Absonderlichkeiten dieses Ausnahmezustandes ins Licht zu rücken, die Österreich gewiß eine Ausnahmestellung unter den Rechtsstaaten gegeben hätten. Im Interesse der Reputation unseres Staates im Ausland muß man es begrüßen, das diese vermutliche Absicht der Kodifikatoren gesetzestechnisch mißlungen ist.2

Der wahre, gesetzgeberisch verwirklichte Inhalt der Verfassungsbestimmung des Art. 102, Abs. 7, B-VG. erschöpft sich in der Ermächtigung an den Bundesminister, der durch Gesetz oder eine andere Rechtsquelle von Gesetzeskraft eigens hierzu ermächtigt ist, zu ebenfalls gesetzlich bestimmten Maßnahmen auf Dauer der Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung mit Beschränkung auf einzelne Gemeinden eigene Bundesorgane zu ermächtigen. Diese sonderbare Ermächtigung ist schon gegenwärtig im Verwaltungswege insoweit anwendbar, als Bundes- oder Landesgesetze bestimmte Maßnahmen gegen die Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung vorsehen. Der durch Bundesgesetz zuständig erklärte Minister kann bei dieser Rechtslage an Stelle der im Sinne des Gesetzes zuständigen Organe eigenen Bundesorganen die Vorkehrung dieser Maßnahmen übertragen. Es kann z. B. der zuständige Minister — in diesem Falle ist es der Bundeskanzler — die Anwendung des Waffenpatentes in irgend einer Richtung — z. B. hinsichtlich einer bestimmten Gemeinde — an stelle des zuständigen Behörde, etwa einer Bezirkshauptmannschaft oder einer Statutargemeinde einem eigenen Bundesorgan, z. B. dem Polizeipräsidenten von Wien, vorbehalten. Hingegen kann der Art. 102, Abs. 7, unter keinen Umständen einen Rechtstitel zur administrativen oder selbst auch legislativen Suspension von Grundrechten, z.B. zu einem generellen Versammlungsverbot, zur Einführung des Konzessionssystems für Vereine oder Versammlungen, zur Wiedereinführung der Pressezensur u. dgl. mehr abgeben. Es kann nicht zeitlich und entschieden genug einer Gesetzesauslegung entgegengetreten werden, die dem Ausnahmezustand in unserer Rechtsordnung Raum gibt und auf die sich eine Ausnahmepraxis berufen könnte. Dieselbe rückhaltlose Entschiedenheit, mit der ich in diesen Blättern in den Kriegsjahren *) gegen die Überspannung des Ausnahmezustandes aufgetreten bin, ist gegen dessen neuerdings versuchte Wegbereitung am Platze: „Principiis obsta!“

*) Vgl. meine Artikelserie „Die Verordnungsgewalt im Kriege“.

1 In der Ausgabe der „österreichischen Verfassungsgesetze” von Ludwig Adamovich und Georg Froehlich, 2. Aufl., Wien 1980, wird zur zitierten Verfassungsstelle bemerkt: „Welche Maßnahmen in diesem Fall zu treffen sind und welche Bundesorgane hiermit betraut werden sollen, hat der zuständige Bundesminister zur beurteilen.“ (S 99, Anmerkung 9.)

2 Es ist typisch freirechtliche Methode, diese gesetzgeberisch verfehlte Absicht in das Gesetz hineinzudeuten und somit den Gesetzgeber im Sinne seiner Absichten zu korrigieren. Professor Adamovich ist ein viel zu gewiegter Verfassungskenner, um sich der kodifikatorischen Unzulänglichkeit der in Rede stehenden Verfassungsbestimmung nicht bewußt zu sein. Wenn in der von ihm gemeinsam mit Herrn Vizepräsidenten Froehlich herausgegebenen, gewiß sehr verdienstlichen Gesetzesausgabe die im Text dargestellte Ausnahmeermächtigung in den Verfassungstext hineininterpretiert wird, so erinnert dieses Verfahren an den Versuch, den Adamovich in seinem im ganzen und großen gewiß vorzüglich sachkundigen „Österreichischen Verfassungsrecht“ unternommen hat, die Bestimmung des ursprünglichen Art. 35 B-VG., wonach bloß der Art. 35 B-VG. nur mit Zustimmung des Bundesrates abänderbar sein sollte, auf interpretativem Wege auch auf den Art. 34 B-VG. auszudehnen, der nur infolge eines aufliegenden Redaktionsversehens nicht zitiert worden war. Auch die freieste Rechtswissenschaft ist nicht dazu berufen Redaktionsversehen des Gesetzgebers zu berichtigen.


Anmerkung Aktive Arbeitslose Österreich:

Artikel 102 Abs. 7 war bis 30.4.1993 in Kraft

Mit 1.1.1985 und bis heute geltend wurde folgender Absatz 8 (nunmehr Absatz 6) angefügt:

„Wenn in einem Land in Angelegenheiten der unmittelbaren Bundesverwaltung die sofortige Erlassung von Maßnahmen zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit zu einer Zeit notwendig wird, zu der die obersten Organe der Verwaltung des Bundes wegen höherer Gewalt dazu nicht in der Lage sind, hat der Landeshauptmann an deren Stelle die Maßnahmen zu treffen.“

Artikel 20 Staatsgrundgesetz 1867 lautete:

"Über die Zulässigkeit der zeitweiligen und örtlichen Suspension  der in den Artikeln 8, 9, 10, 12 und 13  enthaltenen Recht durch die verantwortliche Regierungsgewalt wird ein besonderes Gesetz bestimmen."

http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=rgb&datum=18670004&seite=00000396

Weitere Informationen
Schlagworte
Ortsbezug